Die gute Nachricht vorab: Gränichen steht noch!
Bei meiner Anreise ins Dorf wies, abgesehen von den Festivalplakaten, noch nicht viel darauf hin, was in den nächsten zwei Tagen hier passieren wird. Einige mit Zelten bepackte Fussgänger hatten aber ein klares Ziel an diesem heissen Sommerabend. Vom freundlichen Parkdienst, bei diesem Wetter auch nicht gerade ein Schoggijob, wurde ich auf den Parkplatz gewiesen.
Schon beim Eingang war klar: hier sind Leute mit sehr viel Herzblut am Werk! Ein liebevoll gestaltetes und toll gemaltes Eingangstor, sogar mit Blümchenrabatten auf beiden Seiten, empfing die Gäste und machte trotz Bruthitze richtig Lust auf ein lautes, staubiges Festival.
Ab 19 Uhr wurde es laut. Expellow aus Zürich hatten die Ehre, das Open Air Gränichen zu eröffnen. Von der Hauptbühne prasselten vom ersten Moment atemberaubende Screams und Growls der Sängerin Mik Dean, harte Riffs und erbarmungslose Breakdowns auf die bereits zahlreich anwesenden Zuschauer nieder. Expellow spielten modernen, wuchtigen Metalcore, in einer spannungsgeladenen Mischung aus melodischen Parts mit cleanem Gesang und fettem Bass mit grollendem Gebrüll. Weitere Pluspunkte sammelten die Zürcher mit einer Kiste voller Wasserballons für die Zuhörer, die dem Aufruf zu einer Wasser-Wall Of Death begeistert folgten.
Der Progressive Metal von Nubia war der perfekte Start auf der zweiten Bühne, in der Sounderia. Mit einer Mischung aus filigranen, sehr melodiösen Parts und komplexen Djent-Gefügen überzeugten sie mit ihrem rhythmisch anspruchsvollen Sound. Was mir sehr gefiel, war der Gegensatz zwischen der hellen, klaren Stimme des Gitarristen Michael Hirst und dem Growling von Sänger David Häusermann, der die Luzerner Band erst seit wenigen Wochen bereichert.
Lyvten knallten den Anwesenden eine Ladung deutschen Postpunk um die Ohren. Mit tiefsinnigen, kritischen Texten und Anleihen aus Emo, Indie und Wave rissen die Zürcher um Sänger Thorsten Polomski das Publikum mit. Mal wütend, mal nachdenklich und emotional lieferten sie eine packende Show ab. Lyvten muss man sich merken!
Jinjer ist brachial. Jinjer ist groovig. Jinjer ist laut. Die drei Ukrainer mit ihrer Frontfrau Tatiana Shmaylyuk liessen die Bühne mit ihrem Metalcore, kombiniert mit Groove Metal und Hardcore- sowie Djent-Elementen beben. Tatiana wechselte mit ihrer äusserst wandelbaren Power-Stimme fliegend zwischen Growling und packendem Cleangesang. Ihre Bühnenpräsenz und das Tempo der gesamten Show rissen die Zuseher mit. Wer Jinjer davor noch nicht kannte, wird sie bestimmt nicht so bald wieder vergessen!
Bestens gelaunt stürmten die Donots auf die Mainstage. Die Menge folge begeistert der Einladung zum asozialen Gruppenschwitzen, wie von der Band verkündet. Auch der erste Moshpit liess nicht lange auf sich warten. Die Stimmung vor, wie auf der Bühne war ausgelassen und alle feierten die Punkrock-Show mit schönen Melodien und Ausflügen in Hardcore oder Poprock. Die Freude war bei zwei Fans so gross, dass sie kurzerhand auf der Bühne mitmischten, nur noch äusserst leicht bekleidet, nota bene. Bei dieser temporeichen Show der Donots stieg die Temperatur gleich noch einmal um einige Grad an, obwohl die Sonne inzwischen längst untergegangen war. Spätestens bei ‘We’re not gonna take it’ war die Stimmung auf dem Siedepunkt und das Publikum nicht nur warm-, sondern heissgesungen. Die Nebelmaschine hatte übrigens Pause, denn der Staub, den die Feiernden bei Pogo und Circle Pit aufwirbelte, erfüllte diesen Zweck genauso. Im Circle Pit vor der Stage mischte, zur Freude der Fans, auch der Sänger Ingo Knollmann mit. Nach einer mitreissenden Party auf und vor der Bühne verabschiedeten sich die Donots mit ‘So Long’ vom begeisterten Publikum.
In Australien gibt’s nur Koalas und Kängurus? Weit gefehlt! Northlane aus Sydney sind gar nicht kuschlig, lassen aber die Zuschauer springen und mitsingen. Mit ihrer brachialen Mischung aus Hardcore Punk, Metalcore und Mathcore, kombiniert mit melodiösen Clean Vocals und markanten Shouts des neuen Frontmanns Marcus Bridge überzeugten Northlane auf der ganzen Linie. Und Gitarrist Jon Deiley war es mit seiner Gesichtsmaske auch bestimmt nicht kalt…
Zum Abschluss des Freitags heizten Comeback Kid aus Kanada nochmals richtig ein. Trotz den immer noch hohen Temperaturen gelang ihnen das locker. Mit ihrem kraftvollen Hardcore-Punk brachten die Musiker aus Manitoba die Menge zum Kochen. Alle sangen mit, auch mal direkt via Mikrofon, das der Sänger Andrew Neufeld ins Publikum hielt. Ohne Circle Pit und Moshpit ging es auch hier nicht ab, ganz klar! Mit ihrem schnellen und melodiösen Sound schickten sie die immer noch in grosser Zahl versammelten Fans in die Nacht.
Am Freitag durften wir Fotografen nicht in den Fotograben bei der Sounderia, was sich leider, in Kombination mit eher spärlicher Bühnenbeleuchtung, negativ auf die Bilder auswirkte.
Der Samstag begann in Gränichen kurz nach Mittag sehr ruhig und schon fast beschaulich. Andris Linz, früher bei Switchstance, hier als Small Thanx For It eröffnete den zweiten Festivaltag mit ruhigen Tönen. Der Mann, seine Gitarre und seine schönen Singer-Songwriter-Songs. Ein Blick in die teils noch etwas müden Gesichter der Leute, die sich in Richtung Bühne bewegten, bestätigte, dass dies die richtige Einstimmung auf den Tag war.
Im Schatten des Zeltes der Sounderia schlugen Simia Sapiens danach wieder härtere Töne an. So wurden auch die letzten Langschläfer auf dem Zeltplatz aus den Federn geholt. Die Jungs aus Aarau haben ihre Wurzeln in der Schweiz, dem Kosovo, Schottland und Irland. Nach 42 Gigs in 7 Ländern im vergangenen Jahr hatten sie hier fast ein Heimspiel. Die Zuschauer feierten bei Simia Sapiens auch bereits wieder mit. Die Show aus Stoner-Sound und Punk-Rock in gelungener Kombination mit Psychedelic Rock und Gesang aller Bandmitglieder liess niemanden kalt. Gut so!
Nu-Metal ist tot? Keineswegs! Sickret aus Sursee beweist, dass Crossover weiterhin die Leute bewegt! Dies bestätigte der Blick ins Publikum. Bei diesem hammerharten Nu Metal mit Hardcore-Elementen blieb keine Stirn trocken! Ein besonderer Blickfang war der Bassist Chris Niederberger in seinem goldglänzenden Jackett. Aber nicht für lange, dann entledigte er sich der goldenen Klamotte. Verständlich, war ja die Hitzewelle des Sommers 2018 auf ihrem Höhepunkt. Obwohl die Zuhörer gemäss Sänger Timmy Michels so cool war, dass sich sogar eine Wolke vor die Sonne schob, wurde es bei der Show von Sickret nicht wirklich kühler. Selber schuld, meine Herren, wenn ihr uns so einheizt! Da verhalfen auch die diversen Duschen für die erhitzte Menge aus dem Feuerwehrschlauch nur kurzfristig zu ein wenig Abkühlung.
Defender aus Baden liessen mit ihrem Hardcore und Metalcore mit melodiösen Elementen die Leute vor der kleinen Bühne wieder schwitzen. Mit ihrer mitreissenden Show mit viel Herzblut ging das Headbangen weiter und die Zeit verging wie im Flug. Breakdowns und die Screams des Frontmanns Kevin Zeier komplettierten den satten Sound der Aargauer.
Mit Nasty stürmte viel Aggression in musikalischer Form die Bühne! 4 dudes doing fucked up music for a fucked up world!, wie sie sich selbst beschreiben, trifft es genau. Die wütenden Belgier knallten den Zuhörern ihren Beatdown-Hardcore um die Ohren. Der Doublebass pushte gnadenlos und der Sänger Matthias Tarnath brüllte seine ganze Wut über Faschismus, Ignoranz und Dummheit auf dieser Welt heraus, und die anderen Bandmitglieder taten es ihm an Gitarren und Bass gleich. Trotz, oder vielleicht gerade wegen der ganzen Wut, gefiel mir die Ausstrahlung des Frontmanns ebenso wie sein Kontakt zum Publikum.
Als Kontrastprogramm standen anschliessend Adhesive mit ihrem Skate-Punk auf der Sounderia-Bühne. Nicht mit weniger Inhalt, aber mit mehr Humor! Der melodische, schnelle Punkrock mit dreistimmigem Gesang und die lockeren Sprüche zwischen den Songs kamen bei den Zuschauern sehr gut an. Schade, war dies das letzte Konzert in der Schweiz! Denn nach einem längeren Unterbruch fand sich die Band nochmals zusammen für eine letzte Tour durch Clubs und an Sommerfestivals. Erwähnenswert finde ich, dass aller Profit aus diesem Jahr vollumfänglich an Hilfsorganisationen geht, die sich für Flüchtlinge und Menschen in Krisengebieten einsetzen. Hut ab!
Mein erstes persönliches Highlight folgte nun: Die einen Pioniere des Crossover an diesem Festival, Dog Eat Dog! Die Menschenmasse vor der Bühne zeigte, dass es nicht nur mir so ging. Und wir wurden nicht enttäuscht. In bester Stimmung stürmte die Band aus New Jersey die Mainstage und legte eine Show hin, die sich gewaschen hat. Mit ihrem Mix aus Hardcore-Punk, Metal und Rap rissen sie das Publikum mit! What a party! Auch eine Reggae-Einlage wurde mit viel Jubel angenommen. Ya mon! Übrigens sind nicht alle Bandmitglieder aus den USA – Roger Hämmerli, Frontmann der Schweizer Band Henchman, ist seit fast 10 Jahren fester Tourgitarrist bei Dog Eat Dog. Das Zusammenspiel von Gitarren, Saxophon und dem Gesang von John Connor war schlicht grossartig!
Kanada war zum zweiten und noch nicht letzten Mal vertreten am Open Air Gränichen, mit Get The Shot. Diesmal mit knüppelhartem, authentischen Thrash Metal. Die Männer aus Québec liessen ein Gewitter aus schweren Hardcore-Grooves und krachenden Metal-Gitarren über das Moortal ziehen. Der Sänger Jean-Philippe Lagacé bezog ohne Berührungsängste auch das Publikum in die Show mit ein. Bei so viel Wucht ist es schon fast ein Wunder, dass das Sounderia-Zelt nach dem Auftritt von Get The Shot überhaupt noch stand!
Gold-Jacketts sind offenbar der letzte Schrei in diesem Jahr! Nach dem Vorbild des Bassisten von Sickret liessen sich Royal Republic nicht zweimal bitten: die gesamte Band erschien in goldenen Glitzerzwirn gekleidet. Mit ihrem gutgelaunten, energetischen Garage-Rock wussten sie auf der ganzen Linie zu überzeugen. Die gute Dosis Rock’n’Roll-Inspiration für ihren Sound ist unüberhörbar. Die Party, welche vor der Mainstage schon bei Dog Eat Dog begonnen hatte, ging weiter! Royal Republic haben inhaltlich vielleicht weniger Tiefgang als andere Bands, die ich hier gesehen habe, aber was solls. Manchmal wollen wir doch auch einfach nur die Puppen tanzen lassen!
Mit deutlich weniger Leichtigkeit, dafür umso mehr Druck beschallten die dritten Kanadier das Moortal. Counterparts überzeugten mit modernem Melodic Harcdore. Der Frontmann Brendan Murphy bellte seine energiegeladenen Growls ins Publikum, oft begleitet von konträr melodiösen Gitarrenklängen. Diese Gegensätze machte den Auftritt von Counterparts sehr intensiv und spannend.
Clawfinger, der Headliner am Samstag und mein anderer Favorit, hielt, was der Name verspricht. Die Skandinavier, ebenfalls Crossover-Pioniere, beschallten die Fans mit knochenhartem Rapmetal. Mit treibenden Beats, Zak Tells unverkennbarer Stimme und knackigen Gitarrenriffs liessen sie die Menge vor der Bühne noch mehr schwitzen. Die Herren, inzwischen mittleren Alters, haben nichts von ihrer früheren Energie verloren und die Leute vor der Bühne gingen entsprechend ab. André Skaug am Bass liess beim headbangen seine langen Haare inkusive Bart fliegen und die Zuschauer gaben ebenfalls alles beim springen und pogen. Trotz den kritischen Texten der Clawfinger-Songs kam der Spass keinesfalls zu kurz. Hier brannte die Luft und das hatte nur am Rande mit den schon erwähnten Temperaturen jenseits der 30 Grad zu tun. Eigentlich haben Clawfinger sich ja 2013 aufgelöst, jedoch spielen sie immer noch vereinzelt Konzerte, vor allem an Festivals. Auf den Tag genau ein Jahr vor ihrem Auftritt in Gränichen brachten sie mit Save Our Souls eine neue Single heraus. Für November dieses Jahres sind auch einige Gigs in Deutschland und der Schweiz angekündigt! So gilt für alle, die die lauten Skandinavier in Gränichen verpasst oder noch nicht genug von ihnen haben: Don’t miss it!
Ein Kontrastprogramm, soundmässig wie stimmlich, lieferten Arcane Roots ab. Als eine der innovativsten Alternative-Rockbands Grossbritanniens gehandelt, haben sie auch das Publikum im Moortal nicht enttäuscht. Atmosphärischer Sound mit viel Tiefgang, satte Gitarrenriffs und oft melancholischer Gesang trugen die Zuhörer durch die Show. Für mich eine Band, die ich mir bei anderer Gelegenheit gerne in aller Ruhe ein weiteres Mal live anhöre.
Last but not least stürmten Agnostic Front aus den USA die Mainstage. Die Vorreiter der Metalcore-Bewegung und Mitbegründer des NYC Hardcore sind seit den frühen 80ern unterwegs und immer noch rebellisch. Erbarmungslos aggressive Drums, tobende Gitarren und verzerrte Basslines unterstrichen den anarchistischen Sound von Agnostic Front. Roger Miret liess sich auch von zwei erst kürzlich überstandenen Operationen nicht vom performen abhalten und bestritt die Show mit dem Arm in der Schlinge. Dies schmälerte aber seinen Auftritt mit viel wütendem Geschrei keineswegs. Punks sind schliesslich keine Sissys. Nochmals drehte die Menge so richtig auf und feierte zum letzten Mal für dieses Jahr so richtig ab.
Vor dem letzten Gig des diesjährigen Open Air Gränichen haben die Veranstalter auf der Hauptbühne dem Publikum freudig verkündet, dass der Samstag mit über 3’000 Zuschauern ausverkauft war – zum ersten Mal in der 24-jährigen Geschichte dieses Festivals! Insgesamt waren 5’900 Besucher auf dem Gelände. «De Donnstig», der Abend für die Dorfbevölkerung mit Auftritten von Nick Mellow und Mr. Lucky sowie einem Kinderprogramm war mit 1’000 Gästen ebenfalls sehr gelungen. Dazu kann ich nur sagen: Ihr habt euch den Erfolg verdient!
Mein Fazit: Das Open Air Gränichen ist ein tolles, professionell organisiertes Festival in einer angenehm überschaubaren Grösse. Sämtliche Mitarbeiter, die ich angetroffen habe, von den Verkaufsständen bis zur Security, waren sehr freundlich und die Atmosphäre überall friedlich und entspannt. Viele Musiker waren nach ihren Auftritten auf dem Gelände anzutreffen, so beispielsweise der Sänger und der Drummer von Dog Eat Dog oder Mitglieder von Clawfinger, sogar schon vor ihrem Konzert.
Das ganze Festivalgelände ist sehr schön gestaltet. Die beiden Bühnen sind zu Fuss nur 1-2 Minuten voneinander entfernt, so dass man sich jede Band anschauen kann, da sich die Konzerte zeitlich nicht überschneiden. Für mich ein klarer Vorteil, wenn ich mich nicht für die einen Künstler auf Kosten anderer entscheiden muss. Das Programm ist abwechslungsreich zusammengestellt, mit unterschiedlichen Acts, die alle bestens ins Gesamtkonzept passen. Ich kann das Open Air Gränichen jedem Fan dieser Musikrichtung absolut empfehlen!